Buon Appetito: Maratona di Roma
Antipasti
(Start)
Metrostation „Colosseo“, blaue Linie, jetzt also raus.
Etwa vierzig Minuten Anreise haben wir hinter uns, als wir mit Hunderten anderer Läufer und Lauf-Begleitern die Metrostation verlassen.
Ein vielstimmiges „Oahhhh“ lässt mich aufblicken, reißt mich aus meinen Gedanken, die sich um Zwischenzeiten und Laufutensilien drehen: vor uns das Colosseum im Sonnenlicht, gewaltig und ungeheuer beeindruckend.
Kein Gladiator, kein Sklave, kein Löwe zu sehen und dennoch sind diese Bilder plötzlich im Kopf : Brot und Spiele, Christenverfolgung, Wagenrennen und johlende Zuschauer – ob man will oder nicht, hier umweht den Betrachter der Hauch der Geschichte.
Die erfahrenste aller Laufbegleiterinnen, Dagmar, zückt den Fotoapparat und schießt das Erinnerungsfoto vor dem Start.
Dann schnell die Suche nach der kürzesten Toilettenhäuschenwarteschlange, anstellen und ausatmen.
Wieder einatmen und umziehen, Rucksackabgabe, Viel-Glück-Abschiedsküßchen und hinein in das Läuferfeld !
Ich finde meinen Platz bei den Vier-Stunden-Dreißig-Möchtegern-Läufern, na ja, werde mich schon nach vorne durcharbeiten !
Los geht’s, avanti !
Primo Piatti
(Strecke)
Gibt es etwas Schöneres, als an so einem sonnigen Tag mit so vielen glücklichen Läufern aus der ganzen Welt durch Rom zu laufen ?
Das kann ich mir auf diesen ersten Kilometern kaum vorstellen !
Lachende Gesichter um mich herum, Jubelrufe in vielen verschiedenen Sprachen und Anfeuerungen auf italienisch:
„Vai, ragazzi, vai !!!“ ruft man uns zu und wir haben noch keine Mühe, den Aufforderungen nachzukommen. Mir spukt eine neue Bestzeit im Kopf herum, einen Schnitt von fünf Minuten und zwanzig Sekunden müsste ich laufen, somit also irgendwann zu den 3:45-Pacemakern mit den orangefarbenen Luftballons aufschließen, aber die habe ich nur im Startbereich, weit vor mir gesehen, jetzt sind sie weg !
Ich schaue nach jedem Kilometer auf die Uhr, habe bald einen Schnitt von 5:30, überhole ständig und laufe immerhin schon an die rosa Luftballons heran, die wollen bei vier Stunden im Ziel sein.
Ich lasse sie hinter mir und fühle mich gut!
Was ist das? Die olympischen Ringe an einem Stadion vor mir, wie toll, das ist das römische Olympiastadion, die ersten olympischen Spiele meiner leibhaftigen Erinnerung, 1960?
Armin Harry ?
Muss ich zuhause nachschlagen!
Dann eine Kurve – und wir laufen auf den Petersdom zu, welch ein Anblick, göttlich geradezu!
Ich fotografiere mit den Augen, bis wir vorbeigelaufen sind.
Die Halbmarathonmarke ist erreicht, Zwischenzeit netto 1:57:20, das ist bei einer guten zweiten Hälfte noch ausbaufähig!
Secondi Piatti
(Stress)
Piazza Navona, Piazza di Spagna, Fontana di Trevi , Kilometer 34 bis 39, die Sehenswürdigkeiten Roms sehen im Sonnenlicht einfach fantastisch aus, wenn man sie mit den Augen betrachtet, aus der Sicht der Füße wirken sie holprig und schwerfällig.
Wer denkt beim Angriff auf die Bestzeit schon daran, dass Roms Straßen auch ihre Geschichte haben, dass Kopfsteinpflaster auch quälend-antik sein kann?
Die Highlights Roms ergötzen im Augenblick mehr die Anderen als mich, die Menschen sitzen in den Cafes und applaudieren freundlich bis anerkennend und der Duft italienischen Kaffees erinnert mich daran, dass man hier eigentlich ja auch nur sitzen und genießen könnte!
Außerdem hat sich irgendwo auf den vergangenen fünf Kilometern meine Bestzeit aufgelöst, einfach so verabschiedet, ich weiß jetzt, dass ich sie nicht mehr erreichen kann.
Na, dann vielleicht wenigstens unter vier Stunden?
Noch während in meinem Kopf mal wieder (zum sicherlich zehnten Mal) der Entschluss reift, dass das jetzt aber hundertprozentig der letzte Marathon war, überhole ich langsam einen jungen, offensichtlich italienischen Läufer, der mir wegen seiner äußeren Erscheinung und seines lauten Lamentierens auffällt.
Braungebrannte, muskulöse Beine, enge, orangegelbe Lauftights, ein dazu passendes Shirt, bestimmt 1,90 m groß, gepflegt und leicht übergewichtig.
Er bewegt sich nur noch schleppend fort und ruft allen, die ihn überholenden, Komplimente hinterher, besonders zwei jungen Frauen, die aussehen, als machten ihnen auch diese letzten Kilometer kaum etwas aus.
Meine Italienisch-Kenntnisse reichen aus, um zu verstehen, was er meint, dass er sie bewundere, verehre, er nicht verstehen könne, wieso sie noch so gut aussähen, sie sowieso die Schönsten auf dieser Strecke seien !
Noch lange Zeit, nachdem ich an ihm vorbei gelaufen bin, höre ich sein freundlich-anerkennendes Wehklagen und muss lachen, kann wieder lachen.
Junge Römer laufen anders als alle Andern!
Dolci
(Stolz)
Bei Kilometer 40 zeigt meine Uhr eine Nettozeit von etwa drei Stunden und fünfzig Minuten. Schaffe ich es noch unter vier Stunden?
Ausgeschlossen, ich sehe die abschließende Steigung vor mir, die letzten beiden Kilometer führen wieder bergauf über Kopfsteinpflaster, das packe ich nicht mehr in zehn Minuten!
Also genehmige ich mir im Gehen einen Becher Wasser an der letzten Getränkestation und beschließe, langsam, aber erhobenen Hauptes durch das Ziel am Colosseum zu laufen.
Und während ich gleichmäßig, Schrittchen für Schrittchen, weiterlaufe, spreche ich in dieser wunderschönen italienischen Sprache leise, liebliche Worte vor mich hin: „bruschette“, „rigatoni all’ amatriciana“, „abbacchio al forno“, „torta di ricotta“, „gelato“ …
Als ich die am Wegesrand hockenden Fotografen registriere, gelingt mir ein Lächeln, das nicht einmal aufgesetzt ist, denn ich sehe das Foto schon vor mir :
auf dem Foto wird ein Läufer zu sehen sein, erschöpft, müde, ein bisschen Gladiator, ein bisschen Sklave, stolz, vor der atemberaubenden Kulisse des Collosseums ins Ziel gekommen zu sein, voller Vorfreude auf ein köstliches römisches Mahl.
Verfasser:
Klaus Lehnen!